Geschlechtliche Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht!
Stellungnahme des Netzwerkes Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern zum Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften.
Sehr geehrte Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Lisa Paus,
Sehr geehrter Bundesminister der Justiz Marco Buschmann,
geschlechtliche Selbstbestimmung ist für alle Menschen wichtig. Wie grundlegend Geschlecht für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist, wird aber oft nur dann deutlich, wenn das eigene Geschlecht in Frage gestellt ist oder nicht gelebt werden kann. Geschlecht ist ein tiefes Wissen – die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einem Geschlecht kann jeder Mensch nur für sich selbst beantworten. In diesem eigenen Geschlecht nicht anerkannt zu sein und es nicht leben zu können, wird von den betroffenen Menschen als zutiefst traumatisierend beschrieben. Menschen, deren Geschlecht nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen einer binären Geschlechterordnung entspricht, erleben in einer geschlechtlich überwiegend binär strukturierten Gesellschaft ein hohes Maß an Diskriminierung und Gewalt. Der Abbau diskriminierender Regelungen, die Anerkennung vergangenen Unrechts, der Schutz vor Diskriminierung und die Schaffung einer diskriminierungsfreien Anerkennung des eigenen Geschlechts sind deshalb dringend erforderlich.
Das Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern e.V. (NRDB) begrüßt vor diesem Hintergrund die Initiative der Bundesregierung für ein Selbstbestimmungsgesetz, das bestehende Diskriminierung von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen abschafft und einen selbstbestimmten, unbürokratischen und diskriminierungsfreien Weg eröffnet, den Geschlechtseintrag bei Bedarf zu korrigieren und die Vornamen an das eigene Geschlecht anzupassen.
Der aktuell vorliegende Referentenentwurf des Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften (SBGG) erfüllt dieses Ziel jedoch nur teilweise. Neben wichtigen Verbesserungen enthält der Entwurf eine Reihe von komplizierten und unklaren Regelungen, die in der Folge Rechtsunsicherheit schaffen können, sowie diskriminierende Diskurse begünstigen und Diskriminierungen festschreiben. Aus Sicht des Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern e.V. ist es deshalb dringend erforderlich, den vorliegenden Entwurf entlang der Stellungnahmen der Fachverbände insbesondere des Bundesverband Intergeschlechtliche Menschen, des Bundesverband Trans*, der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. sowie der Stellungnahme der tin Rechtshilfe e.V. zu überarbeiten. Auf Grund der hohen Vulnerabilität der betroffenen Personengruppen muss diese Überarbeitung schnellstmöglich erfolgen, eine Verzögerung des Gesetzgebungsverfahren ist unbedingt zu vermeiden.
Im Einzelnen begrüßen wir insbesondere folgende Punkte des Referentenentwurfs:
- Die Vereinheitlichung der Verfahren für alle trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen und die Einführung einer selbstbestimmten Erklärung über das eigene Geschlecht (weiblich, männlich, kein Eintrag, divers)
- Die Abschaffung der Fremdbegutachtung von trans* Menschen•Die Abschaffung der Pathologisierung von intergeschlechtlichen Menschen durch die ärztliche Attestierung einer „Variante der Geschlechtsentwicklung“ für eine Änderung nach dem Personenstandsgesetz
- Die Stärkung des Offenbarungsverbots
Folgende Aspekte des Referentenentwurfs kritisieren wir und fordern, diese zu überarbeiten:
- Es muss sichergestellt werden, dass mit dem Begriff geschlechtliche Identität die Geschlechtszugehörigkeit einer Person bezeichnet wird. Eine im SBGG implizit angelegte unvollständige Gleichstellung der geschlechtlichen Identität mit Geschlecht ist nicht akzeptabel und birgt die Gefahr von vielfältigen Diskriminierungen, indem hinter der geschlechtlichen Identität ein nicht definiertes, aber vermeintlich wahres –fremdbestimmtes – Geschlecht vermutet wird. Dies würde eine Verschlechterung gegenüber dem Transsexuellengesetz bedeuten.
- Der Text enthält einige Regelungen und Ausführungen, die trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen unter den Generalverdacht stellen, eine Bedrohung zu sein. Diese Regelungen führen nicht zu einem Schutz vor Missbrauch des Gesetzes, begünstigen aber Diskriminierungen gerade der Personengruppe, die dieses Gesetz vor Diskriminierung schützen müsste. So werden beispielsweise im Abschnitt zum Strafvollzug unter Missachtung der Datenlage trans* Frauen ausschließlich als Bedrohung dargestellt, ohne den fehlenden Schutz von trans* Frauen vor Übergriffen im Strafvollzug zu erwähnen; an keiner Stelle wird der fehlende Schutz von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen im Strafvollzug erwähnt. Analog erfolgt dieses in den Ausführungen zu Frauensaunen. Auch hier werden trans* Menschen ohne Datengrundlage als Bedrohung phantasiert, ohne das besonders hohe Maß an Ausschluss und Diskriminierung für trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen in diesem Lebensbereich zu berücksichtigen. Dem Anspruch eines modernen, von Humanismus und Liberalität geprägtem Personenstandsgesetz wird der Referenten-Entwurf in der vorliegenden Form daher nicht gerecht.
- Trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Kinder und Jugendliche sind in Bezug auf ihr Geschlecht besonders vulnerabel, sie haben ein Recht auf Achtung, Schutz und Mitsprache. Wir empfehlen Kindern unter 14 Jahren ein größeres Mitspracherecht einzuräumen. Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren sollten eigenständig über die Änderung ihres Geschlechtseintrags und ihrer Vornamen entscheiden. Die vorgesehene Regelung über das Familiengericht für Jugendliche ab 14, die im Konflikt mit ihren Erziehungsberechtigten sind, lässt trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Jugendliche allein, sie ist eine große Hürde und trägt nicht dazu bei konflikthafte Situationen in Familien zu entschärfen. Diese Regelung ist nach unserer Einschätzung nicht im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention. Die Regelung für Menschen mit Betreuung würden im jetzigen Entwurf eine Verschlechterung des Zugangs zu geschlechtlicher Selbstbestimmung bedeuten. Es bestehen erhebliche Zweifel ob diese Regelung im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention stehen. Paragraf 3 (Erklärungen von Minderjährigen und Personen mit Betreuer) muss überarbeitet werden.
- Die Wartezeit von drei Monaten bis zur Wirksamkeit der Erklärung ist unnötig und ergibt keinen Sinn. Sie stellt für die betroffenen Personen eine zusätzliche Belastung dar und führt zu unklaren und schwierigen Situationen im Alltag, z.B. nach einem Coming Out im Arbeitsleben. Für intergeschlechtliche Menschen, die bisher den Weg über Paragraf 45b des Personenstandsgesetzes ihren Geschlechtseintrag ändern konnten, ist diese Wartezeit eine Verschlechterung. Paragraf 4 (Wirksamkeit; Rücknahme der Erklärung) sollte ersatzlos gestrichen werden.
- Wiederholte Änderungen des Geschlechtseintrags sind in den TSG-Verfahren äußert selten. Der Zwang, die alten Vornamen annehmen zu müssen bei einer weiteren Änderung des Geschlechtseintrags, ist zu streichen, da diese im Widerspruch zu der geschlechtlichen Entwicklung einer Person stehen können. Paragraf 5 (Sperrfrist; Vornamenbestimmung bei Rückänderung) sollte entsprechend angepasst werden.
- Die Regelungen des Paragraf 6 (Wirkungen der Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen) sind zum Teil irreführend, unnötig und begünstigen diskriminierende Diskurse und Diskriminierung von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen in den Bereichen Hausrecht, Sport und Medizin. Der Paragraf und dazugehörigen Ausführungen erwecken zum Teil den Eindruck, dass hier transfeindliche Diskurse bedient wurden. Die Existenz von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen sind keine Bedrohung für Frauen. Wir bitten darum die Stellungnahmen der Frauenhauskoordinierung zu trans* Frauen in Frauenhäusern und des Deutschen Frauenrates zum SBGG zu berücksichtigen. Der Paragraf 6 widerspricht einem modernen, liberalen und humanen Selbstbestimmungsgesetz. Er muss ersatzlos gestrichen werden.
- Paragraf 7 (Quotenregelungen) ignoriert die seit 2013 in Deutschland rechtlich anerkannte Tatsache, dass es nicht ausschließlich Männer und Frauen gibt und auch Menschen mit den Personenständen „kein Eintrag“ und „divers“ (seit 2018) ein Recht auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe haben und in Gremien unterrepräsentiert sind. Es wäre wünschenswert die Quotenregelungen für alle Geschlechter inklusiv zu gestalten, dass auch intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen angemessen berücksichtigt werden. Das SBGG ist jedoch nicht der geeignete Ort. Wir schlagen deshalb vor Paragraf 7 anzupassen oder zu streichen.
- Auch im Spannungs- und Verteidigungsfall muss eine Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen möglich bleiben. Paragraf 9 (Zuordnung zum männlichen Geschlecht im Spannungs- und Verteidigungsfall) ist ersatzlos zu streichen.
- Paragraf 11 (Eltern-Kind-Verhältnis) schafft neben einzelnen Verbesserungen neue Diskriminierungen für trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Eltern. Eine Verschlechterung und das Entstehen neuer Diskriminierungen sind nicht hinnehmbar. Wir fordern den Artikel grundlegend zu überarbeiten oder zu streichen.
- Seit 2013 gibt es neben den Geschlechtseinträgen weiblich und männlich, die Möglichkeit den Geschlechtseintrag offen zu lassen, seit 2018 gibt es zusätzlich die Möglichkeit für einen diversen Geschlechtseintrag. Bisher wurde weitgehend unterlassen, das deutsche Recht inhaltlich und sprachlich entsprechend anzupassen. Paragraf 12 (Geschlechtsneutrale Regelungen) schafft zwar weitgehend Rechtssicherheit, schreibt aber gleichzeitig den bestehenden Ausschluss von nicht binären und intergeschlechtlichen Menschen im deutschen Recht fest. Nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen haben ebenso wie Frauen und Männer das Recht auf Sichtbarkeit, Gleichstellung und gleichberechtigte Teilhabe. Wir fordern, dass Gesetzestexte geschlechtsneutral ausformuliert werden müssen, in Rechtsvorschriften ist grundsätzlich eine geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, die geschlechtliche Vielfalt berücksichtigt. Eine ergänzende Formulierung in diesem Paragrafen könnte die sukzessive Umsetzung dieser Anpassungen einfordern.
- Die Ausnahmen im Offenbarungsverbot (Paragraf 13) sollten gestrichen werden. Ergänzend aufgenommen werden sollte, dass das absichtsvolle Misgendern von Personen verboten wird. Das Offenbarungsverbot sollte auch für Personen gelten,die ihren Personenstand nach 45b Personenstandsgesetz korrigiert haben (Paragraf 15, Übergangsvorschriften).
Darüber hinaus halten wir es für zwingend erforderlich die hohe Vulnerabilität von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen, die eine Fluchtgeschichte haben oder auf Grund ihres Geschlechts in ihrem Herkunftsland von Verfolgung bedroht sind, anzuerkennen. Die Möglichkeit des selbstbestimmten Geschlechtseintrages ist insbesondere für Personen in laufenden Asylverfahren, für abgelehnte Asylbewerber*innen in gerichtlichen Widerspruchsverfahren, sowie generell für alle in Deutschland anwesenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltstitel notwendig. Die selbstbestimmte Wahl des Geschlechtseintrages ist auch deshalb besonders relevant, weil das Geschlecht von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen häufig einen zentralen Aspekt im Asylverfahren darstellt. Geflüchtete trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen sind in allen Lebensbereichen besonders von Diskriminierung und Gewalt bedroht, die hohe Vulnerabilität dieser Personengruppe muss bei allen Regelungen berücksichtigt werden.
Über das SBGG hinaus fordern wir einen Anspruch auf fachlich kompetente und zielgruppen-spezifische Peer-Beratung für Menschen, die ihren Personenstand oder ihren Vornamen ändern wollen, sowie den Ausbau von Antidiskriminierungsberatung. Einen besonders hohen Bedarf für diese Beratung sehen wir bei trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Kindern und Jugendlichen sowie bei ihren Eltern.
Abschließend möchten wir betonen, dass im Koalitionsvertrag ein Entschädigungsfonds angekündigt ist für die Personen, die durch die frühere Rechtslage Grundrechtsverletzungen erfahren haben. Die Anerkennung erlittenen Unrechts in Form von Zwangsscheidungen, Verlust des Sorgerechts für die eigenen Kinder, Zwangssterilisationen oder durch schädigende Operationen/medizinische Maßnahmen und die Entschädigung dieses Unrechts sind ein wesentlicher Teil gesellschaftlicher Aufarbeitung und dürfen nicht vergessen werden.
Die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetztes ist eine historische Chance nicht nur vergangenes Unrecht zu korrigieren, sondern die gesellschaftliche Benachteiligung, die Pathologisierung und den Ausschluss von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen abzubauen. Das Ziel bei diesem Vorhaben sollte immer sein, eine diskriminierungsfreie und gleichberechtigte Teilhabe von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen zu ermöglichen. Wir danken Ihnen ausdrücklich für die Initiative und hoffen, dass das Gesetzesvorhaben entsprechend dieses Ziels mit den notwendigen Änderungen im Sinne der Betroffenen zügig umgesetzt wird.
Der Vorstand